DragonFly – eine Leseprobe

Genre:

Fantasy/Romantasy mit Elementen aus dem Historienroman und dem Thriller

DragonFly von Nicole Zieseniss, Text-2go.de

XVI

Codex Gigas – Die Teufelsbibel (Arbeitstitel: „DragonFly“)

Autorin: Nicole Zieseniss

Für die wenigen Stunden einer einzigen Nacht wurde der Mönch „Hermanus“ zu „Hermanus Inclusus“ – Herman, der Eingesperrte. Seine Kammer ein Gefängnis. Der Federkiel sein Galgen. Die Zeit sein Strick. Mit jeder Minute zog er sich enger um seinen Hals, presste jeden klaren Gedanken aus seinem Verstand. Hermanus tunkte die Spitze der Feder in das Tintenfässchen, als könnte allein diese Handlung den Schreibprozess in Gang bringen. Doch wieder schwebte der von Ruß geschwärzte Kiel zögerlich über den jungfräulichen Seiten des Pergaments.

Das Gesicht des Mönchs verzerrte sich zu einer Grimasse, als er die Feder von sich warf. Stumm schlug sie auf dem Pult auf, verteilte ihre dunkle Tinte auf dem Holz wie Blut. Der Schemel polterte zu Boden, als Hermanus aufsprang, um die Wände seiner Kammer ein weiteres Mal mit den Fäusten zu malträtieren. Das nasse Gestein ließ die dünne Haut über den Knöcheln aufplatzen, doch Hermanus verspürte keinen Schmerz. Stattdessen nichts als Taubheit. Stille. Als hätte Hermanus bereits begonnen, zu sterben.

Der Mönch ließ die wunden Hände sinken, trat noch dichter an das Gemäuer heran. Er schloss die Augen und inhalierte den Gestank, den der kalte Stein ausatmete. Es roch nach Fäkalien, nach verfaulten Mäusen im Mauerwerk. Dies also sollten seine letzten Eindrücke von der sterblichen Welt sein, ehe er eingemauert dem Wahn verfallen würde. Für alle Zeiten vergessen …

Er wandte sich um und öffnete die Augen. Nicht mehr als zwei Schritte trennten ihn von dem Schreibpult und dem Federkiel, der heute Nacht über Leben und Tod entscheiden sollte.

„Was? Was verlangt Ihr von mir?“, herrschte er die Feder an. „Warum überlasst Ihr mich diesem Schicksal? Wie könnte ich diese Aufgabe ohne Euer Zutun bewältigen?“

Er stürzte auf das Pult zu, stützte beide Hände auf die Holzplatte und beugte sich über die Feder, welche wie zum Spott nur leicht erzitterte.

„Altes Testament, Neues Testament. Es ist mir einerlei, womit Ihr beginnen wollt! Sind es die Rituale für einen Exorzismus oder die Beschwörungsformeln der Teufelsanrufung? Bevorzugt Ihr vielmehr die Abhandlungen der Medizin? Was hat mehr Gewicht für Euch? Die Geschichte des Herrn? Oder die Geschichte der Menschheit? So antwortet mir endlich!“

Doch es herrschte Grabesstille. Zum Schweigen des Federkiels schwand die Kraft aus dem Fleisch des Totgeweihten. Langsam ließ er sich zu Boden sinken, wo er der Taubheit gestattete, auch den Rest seines Körpers zu umschlingen. Er würde nie wieder das Licht der Sonne erblicken, nie wieder den Duft des Frühlings einatmen. Das menschliche Gericht hatte sein Urteil verkündet, das göttliche Gericht tagte bereits. Hermanus stülpte sich die Kukulle über den Kopf, doch nicht, um zu beten. Er war dem Purgatorium längst geweiht. Doch das Fegefeuer würde nicht ausreichen, um seine Seele von allen Sünden zu reinigen. Gleichwohl, die Nachthore konnten sie ihm nicht nehmen. Die alte Komplet, die ihm zur lieben Gewohnheit geworden war – beinahe hätte er sie versäumt.

Der Mönch zwang sich in eine aufrechte Haltung, um seinen letzten klösterlichen Tag in Würde zu beschließen. Er verzichtete auf den Segen für die Nacht, verzichtete auf die Fürbitte der Muttergottes und brach mit den traditionellen Lobgesängen zur Hora completa: „Rette, Herr“, zitierte Hermanus stattdessen den zwölften Psalm, „denn der Fromme ist dahin, denn die Treuen sind verschwunden unter den Menschenkindern. Sie reden Lüge, ein jeder mit seinem Nächsten. Mit glatter Lippe, mit doppeltem Herzen. Visita, quaesumus!“

Das Echo seiner Stimme hallte von den Wänden zurück – ein ruhiger, monotoner Nachklang, der die innere Taubheit endlich vertrieb. Farben vermischten sich in seinem Kopf, trennten sich, nur um wieder miteinander zu verschmelzen. Stofflose Bilder erweckten seine Vorstellungskraft zu neuem Leben. Hirngespinste, aber auch Erinnerungen. Stillleben blühender Wiesen vor dem Kloster, Aquarelle von Libellen, Ölgemälde der Drachen … die Unsterblichkeit zum Greifen nah.

DragonFly - eine Leseprobe von Nicole Zieseniss

Hermanus ließ sich von den schimmernden Schattierungen hinwegtreiben, er begab sich auf eine Zeitreise der Visionen. In Gedanken sah er seine erste und einzige Liebe. Sie lachte und er spürte Erregung bei ihrem Anblick, sein Herz klopfte. Dann erschienen seine Eltern, seine Geschwister. Das Feld, auf dem er als Kind so gern gespielt hatte. Es trieb ihn immer tiefer in die Vergangenheit, weit vor den Zeitpunkt seiner Geburt zurück. Er beobachtete Kriegsherren, belauschte die Rebellen. Er spürte den Machthunger der Kirche und schmeckte die Tränen der Verdammten. Er sah Wesen von der Größe eines Burgturms über die Erde stolzieren. Die Bäume erzitterten unter ihren Schritten. Er sah Echsen, die sich in die Luft emporhoben, und Vögel, die nicht fliegen konnten. Diese mächtigen Tiere wurden kleiner und kleiner, zogen sich schließlich in das Wasser zurück. Bäume verschwanden, selbst das Wasser versiegte. Schließlich blieb nur die Hölle selbst zurück – ein loderndes Feuer, das jeden Stein zum Schmelzen brachte. Der Boden unter den Füßen des Mönchs sackte ein, die Erde brach auseinander wie der Laib Brot, den er mit seinen Ordensbrüdern geteilt hatte. Gigantische Felsbrocken lösten sich unter ohrenbetäubendem Krachen und trieben ins Nichts. Alles, was einst hart und fest war, zerfiel zu Staub.

Dann wurde es still. Der Himmel hatte sich die Welt zu Eigen gemacht. Es existierte weder Oben noch Unten, weder Wärme noch Kälte. Hermanus schwebte in völliger Dunkelheit, nur einzelne Feuerbälle schossen an ihm vorbei. Sterne leuchteten auf, so unerreichbar fern. Doch schließlich verschwanden auch sie und ließen Hermanus in einem undurchdringlichen Schwarz zurück.

Plötzlich zuckte ein Lichtblitz durch die Nacht, so hell wie Millionen von Sonnen, und riss Hermanus aus seiner Meditation.

Überrascht stellte er fest, dass er längst nicht mehr verängstigt auf dem Boden hockte, sondern mit dem Federkiel in der Hand am Schreibpult stand. Sein Handgelenk schmerzte, sein Atem ging schwer. Fein säuberlich beschriebene Pergamentblätter stapelten sich bereits neben ihm. Der Mönch legte die Feder zur Seite und griff sich einige der Papiere vom Stapel. „Wann“, murmelte er, „wann habe ich all das geschrieben?“

Er blätterte durch die Seiten und entdeckte magische Hexensprüche, Kriegstaktiken, Bibelstellen … aber auch eine Schöpfungsgeschichte, welche die Kirche Lügen strafte. Selbst wenn es ihm gelänge, jenes Buch aller Bücher zu vollenden, so würden ihn die Obersten als Ketzer zum Tode verurteilen – allein dieser Blasphemie wegen.

Hermanus trennte die unheilvollen Seiten von den anderen, um sie der hungrigen Flamme seiner fast niedergebrannten Kerze zu übergeben. Doch er zögerte und blickte zu der Feder, die noch immer auf ihn wartete.

„Was, wenn es diese Wahrheit ist, die mich unsterblich macht?“, flüsterte er ihr zu. Sein Atem versetzte die Flamme der Kerze in Bewegung, ihr Licht tanzte auf dem Pult und die Feder erzitterte, als könnte sie es kaum erwarten, wieder in seiner Hand zu liegen.

So zur Eile ermahnt, stopfte Hermanus die gefährlichen Dokumente unter seine Mönchskutte. Er griff nach dem Federkiel und gab sich erneut dem Rausch des Schreibens hin. Stunde um Stunde beschrieb er Blatt um Blatt, bis seine Finger bluteten. Erst mit dem Läuten der Mitternachtsglocken wurde ihm sein Scheitern bewusst. Zu viele Worte verharrten noch immer im Schaft der Feder, um dieses Buch rechtzeitig fertigzustellen.


Dieser Auszug aus meinem Romanprojekt "DragonFly" beinhaltet eine Rückblende, die auf alten Überlieferungen basiert. Sie erzählt von einem Mönch, der aus Angst vor dem Tod das Versprechen abgab, ein Buch zu schreiben, das alles Wissen der Menschheit in sich vereint – den Codex Gigas, die Teufelsbibel. Das Original existiert noch heute und ist in einem schwedischen Museum ausgestellt. Eine Kopie lässt sich aber auch in einem Museum in Chrast, Tschechien, bestaunen - dem Geburtsort der Teufelsbibel.  Einige Seiten wurden im Laufe der Jahrhunderte ausgerissen – ihr Geheimnis konnte noch nicht gelüftet werden …